Eine Kneipe kann in Leipzig ein guter Grund sein, sich aufzuregen. Nein, nicht weil man drinsitzt und nach dem vierten Bier ein bisschen emotional wird. Es ist anders. Etwa in der Leipziger Kolonnadenstraße wurde kürzlich eine neue Kneipe eröffnet. Und die, die sich aufregten, fluchten: Noch eine neue Kneipe? Ernsthaft?
Ich muss das erklären. In der kleinen, feinen Straße, in der ich selbst einmal gewohnt habe, gibt es nämlich auf 200 Metern inzwischen sieben Orte, an denen man etwas essen oder trinken kann. Von West nach Ost heißen sie so: Pizza Paradiso, Café Tokyo, Stoned, Goldhopfen, Kolinar, Café Tunichtgut, Apels Garten. Achja, wer da nicht fündig wird, kann noch hoffen, dass jemand aus dem Projektladen Libelle (zwischen Pizza Paradiso und Café Tokyo) gerade einen Topf KüfA auf den Bürgersteig trägt.
Jetzt also Nummer acht. Meine glühende Wut schürte, dass die Kneipe auch noch dort eröffnete, wo gerade noch der Kunstverein seine Räume hatte. Ein Bierchen mehr – ein Ort für zeitgenössische Kunst weniger?
Aber warum regt man sich nun wirklich über eine Kneipe auf?
Eigentlich kann man an der Kneipendichte doch ablesen, wie extrovertiert die Leute eines Viertels sind. Wie gern sie ausgehen und auf fremde Leute treffen. Im ländlichen Raum gibt es oft kaum noch Kneipen, da trifft man sich zu Hause, man bleibt unter sich. Dort hat man es dann aber auch besonders schön. Im Erzgebirge nennt man solche Treffen Hutznohmd, also Hutzen-Abend, ein Zuhause-Abend. Als die Corona-Regeln, die sich vor allem Leute aus der Stadt ausgedacht haben, noch die Gastronomie betrafen und nicht auch private Treffen, hatte das im Erzgebirge praktisch keine Auswirkungen.
Das größte Gegenteil vom Erzgebirge ist wahrscheinlich Paris, also Groß-Leipzig. In Groß-Leipzig gibt es eine hohe Kneipendichte, weil die Leute lieber mehr Geld für ihren Wein ausgeben als für ihre Wohnung. Dafür ist es in Paris bei den meisten Leuten zu Hause nicht besonders schön. Das ganze Geld steckt dann schon in der Kneipe.
Jetzt ist es nicht so, dass wir uns alle verabreden, ob wir lieber schöne Häuser oder schöne Kneipen haben wollen. Aber es gibt in manchen Vierteln einer Tendenz. In der Kolonnadenstraße gab es nun also die achte Kneipe, was schon mehr ist als eine Tendenz. Zwischen und über den Kneipen findet man übrigens vor allem Plattenwohnungen oder Buden, die einmal wieder eine Sanierung nötig hätten. Man könnte also sagen, hier herrschen, wie in einigen anderen Gegenden, Pariser Zustände. Aber warum ärgert uns das?
Wahrscheinlich handelt es sich um den Atommüll-, beziehungsweise den Windrad-Effekt. Man möchte ununterbrochen Strom aus der Steckdose, natürlich. Aber das, was zur Stromherstellung notwendig ist, soll nicht vor der eigenen Haustür stattfinden. Die Kneipe muss ein paar Häuser weiter weg sein. Unter dem eigenen Schlafzimmerfenster soll es bitteschön abends ruhig bleiben. Je mehr Kneipen, desto geringer ist aber die Chance, dass es ruhig bleibt.
Ich kenne genau eine Kneipe, die Corona nicht überlebt hat. Über die meisten bin ich froh, dass es sie gibt. Dass man hingehen kann. Ich will hier also gar nicht in das große Anti-Kneipen-Wettern einsteigen. Ich hätte trotzdem einen Vorschlag, was man machen könnte, wenn es einem zu viele Kneipen werden: Man könnte die schöne ostdeutsche Tradition des unangekündigten Besuchs wiederbeleben. Wahrscheinlich ein Überbleibsel der geringen Telefondichte der DDR (und, natürlich, der geringen Kneipendichte).
Meine Mutter macht das heute noch: Einfach so bei Nachbarn vorbeischneien, klingeln, reinkommen. Probieren Sie es einmal aus, hat im Zeitalter der niemals abreißenden Kommunikation einen ganz besonderen Zauber.
PS: Die Kneipe in der Kolonnadenstraße hatte nach zwei Tagen wieder geschlossen. Sie war nämlich gar keine echte Kneipe, sondern nur ein klandestines Projekt des Kunstvereins; ein subversiver Kommentar gegen das dauernde Gefühl, dass an jeder Ecke schon wieder eine neue Kneipe aufmacht und man sich darüber aufregt.