Kürzlich wollte ich in die Straßenbahn einsteigen und da fiel er mir wieder auf. Auf dem zweiten Waggon, zwischen grauen, blauen und gelben Streifen, neben der Internetadresse der Leipziger Verkehrsbetriebe, stand wieder dieser Satz: „Lass dich nicht aufhalten.“
Ich murmelte ihn einmal vor mich hin. Und fragte mich kurz: Bin ich etwa ein Superheld auf Weltrettungsmission? Oder wollte ich nicht nur mit der 11 zum Südplatz?
Man muss nur einmal darauf achten, aber solche Sprüche stehen inzwischen überall. Auch dort, wo man sie nie vermutet hätte. Im Stadion gibt es Bier zu kaufen und auf den Bechern steht: „Wahre Helden schäumen vor Begeisterung.“ Wer im Leipziger Hauptbahnhof shoppen gehen will, kann das tun – aber nicht, ohne vorher zu erfahren: „Nächster Halt Vielfalt.“ Auf die Spitze treibt es die Leipziger Stadtreinigung, auf deren Fahrzeugen tatsächlich zu lesen ist: „Ihr Abfall in guten Händen.“ Ja, in wessen Händen denn sonst?
Ich zucke beim Lesen solcher Sprüche immer kurz zusammen. Denn hier wird ja recht erbittert um meine Aufmerksamkeit gekämpft. Und zwar an einer Stelle, von der ich immer dachte, dass es dort nicht notwendig gewesen wäre. Eine Straßenbahn war immer eine Straßenbahn und wird immer eine Straßenbahn bleiben. Ich brauche keinen Mutmacherslogan, um mir ihren Sinn zu erschließen. Im Stadion gibt es nur das eine Bier. Und im Hauptbahnhof nur die eine Einkaufsmeile. Oder?
Warum also die coolen Sprüche, Leipzig?
Vermutlich, weil heute jede und jeder in dieser immer noch sauschnell wachsenden Stadt das Gefühl hat, unter dauerndem Rechtfertigungsdruck zu stehen. Wie wir leben wollen wird täglich neu ausgehandelt. Wollen wir auf dem Ring Fahrrad fahren? Wollen wir Baulücken schließen – oder wollen wir sie begrünen und die Sonne hindurch scheinen lassen? Eine Straßenbahn, die Leute dazu motiviert, sich nicht aufhalten zu lassen, wirkt ein wenig lächerlich. Aber sie wirkt auch, als müsste sie ihre Existenz verteidigen.
Vielleicht ist es ja so: In Leipzig kann sich niemand mehr darauf verlassen, unersetzlich zu sein. Noch nicht mal eine Straßenbahn.
Wer daran glaubt, eben schon immer dazuzugehören, lebt ab sofort gefährlich. Das ist mir beispielsweise neulich auf der Kleinmesse aufgefallen, Leipzigs Rummel, den ich mit dem Schriftsteller Clemens Meyer
besucht habe. Meyer liebt die Kleinmesse, weil sie wie aus der Zeit gefallen wirkt. Weil man dort das Leipzig von Früher besuchen kann. Es ist für ihn und viele andere eine Art Zeitreise.
Vor einigen Monaten erklärte dann der große, sehr gegenwärtige Nachbar der Kleinmesse, der Fußballclub RB Leipzig, er wolle gern Trainingsplätze auf dem Gelände der Kleinmesse errichten. Ganz so, als würde es den Rummel nicht schon seit mehr als Hundert Jahren geben. Und RB Leipzig nicht erst seit ein paar Jährchen. Aber langer Atem ist heute offenbar nichts mehr wert. Jedenfalls nicht, wenn man nicht parallel einen Slogan plärrt, der einen im Hier und Jetzt verankert.
Zum Schluss also einige mittelmäßige Vorschläge für Leipziger Orte, die in letzter Zeit zu wenig Werbung für sich gemacht haben:
- Cospudener See: „Hier wird noch weit raus geschwommen.“
- Sachsenbrücke: „Wir stehen auf grau.“
- Grünau: „Macht Euch keine Platte.“
- Connewitzer Kreuz: „Wir. Die. Gegen-Gegend.“
- Die Treppe vor der Albertina: „Die Pause verfestigt das Gelernte.“